… und Friede auf Erden

In dem klei­nen Park hinter dem evan­ge­li­schen Thomas­fried­hof hören wir Gesang. Wir schauen über die Fried­hofs­mauer und erken­nen schwarz geklei­dete Menschen und einen Geist­li­chen in einem Gewand, das wir nicht einord­nen können. Auch die Spra­che der Gesänge können wir nicht erken­nen. Es könnte eine Beer­di­gung sein oder eine Prozes­sion.
Wenige hundert Meter weiter liegt Böhmisch Rixdorf. Böhmi­sche Reli­gi­ons­flücht­linge haben hier Bauern­häu­ser gebaut, wie sie sie in ihrer Heimat gewohnt waren. Sie stehen immer noch. Ihre Nach­fah­ren haben Fried­rich-Wilhelm I. ein Denk­mal errich­tet aus Dank, dass sie in Preu­ßen aufge­nom­men wurden. Damals gab es noch keinen Natio­na­lis­mus und keinen Rassis­mus, und wir reden darüber, was wohl die einhei­mi­schen Bauern und Hand­wer­ker empfun­den haben, als der König Frem­den gestat­tete, hier ein ganzes Dorf zu grün­den.

Am Sonn­tag machen wir wie oft einen Spazier­gang über die Fried­höfe. Der Thomas­fried­hof ist fast menschen­leer. Natür­lich schauen wir nach, ob man erken­nen kann, wer da gestern begra­ben oder gefei­ert hatte. An der Mauer zum Park liegen Gräber mit Kreu­zen und hin und wieder einer Mari­en­fi­gur. Sie sehen aus wie alle ande­ren Gräber, aber die Namen sind türkisch, manch­mal mit bibli­schen Vorna­men. Die Aufschrift eines Kinder­gra­bes rührt. Auf keinem Stein fehlt das Kreuz.Alles ist liebe­voll gepflegt. Es gibt auch Aufschrif­ten in einer Schrift, die nicht arabisch ist, aber wohl damit verwandt.
Wir schauen uns die Gräber an und lassen die Gedan­ken schwei­fen, wie wir es auf Fried­hö­fen in Deutsch­land, Nieder­land, Polen, Öster­reich, Frank­reich, Norwe­gen, England, Schott­land und Irland gewohnt sind. Das Chris­ten­tum verbin­det, der Tod verbin­det.

Und dann kommen drei junge Männer in schwar­zen Leder­ja­cken, mit dem sorg­fäl­ti­gen Bart­schnitt und Frisu­ren von Foto­mo­del­len. Sie erwi­dern meinen Gruß nicht, gehen vorbei, rufen dann von hinten, was wir an den Gräbern gesucht hätten.

Sie hören nicht zu. Sie lassen uns keinen einzi­gen Satz ausre­den. Sie schreien alle drei unun­ter­bro­chen, viele Minu­ten, auf uns ein. Sie kommen dabei immer näher; ihre Haltung ist drohend. Hier eine Zusam­men­fas­sung dessen, was sie schrieen. Sie gesti­ku­lier­ten und wieder­hol­ten es immer und immer wieder, immer lauter:

  • Hier hätten wir nichts zu suchen.
  • Was wir denn hier gesucht hätten?
  • Hier war gestern keine Feier­lich­keit!
  • Sie, die Männer, hätten diesen Teil des Fried­ho­fes gekauft, und niemand, der nicht zu ihnen gehöre, dürfe diesen Teil betre­ten.
  • Er, einer der Männer, würde sich auch nicht dem Grab meines Vaters nähern. Gräber seien wie ein Haus. Da bliebe man drau­ßen.
  • Und selbst wenn die eige­nen Eltern hunderte Kilo­me­ter entfernt begra­ben wären, hätte man erst recht kein Recht, hier einen Fried­hof zu betre­ten, auch nicht um dieser fernen Eltern zu geden­ken.
  • Und wenn wir über­haupt auf diesem Fried­hof hätten sein dürfen, und wenn denn hier ja gestern eine Feier­lich­keit gewe­sen wäre, hätten wir außer­halb dieses Besit­zes blei­ben müssen. Hier an der Rasen­kante, viele Meter vor den Gräbern, finge das verbo­tene Gebiet an.
  • Man ginge einfach nicht über fremde Fried­höfe, und in Deutsch­land müsste das jeder wissen.
  • Er, einer der Männer, sei stolz darauf ein Deut­scher zu sein und erwarte, dass wir uns auch nach deut­schen Normen rich­te­ten. Ich sei ein Nieder­län­der? Dann müsse ich mich doch an deut­sche Normen anpas­sen.
  • (Und dann, ganz über­ra­schend zum Schluss, mit einem Blick auf meine Leder­hose:) Und über­haupt sähe ich aus wie ein Homo­se­xu­el­ler, und solche hätten hier schon gar nichts zu suchen.

Kommu­ni­ka­tion von uns in ihrer Rich­tung war nicht möglich. Irgend etwas Gemein­sa­mes ließ sich nicht finden. Wir fühlen blan­ken Hass, den wir nicht durch­bre­chen konn­ten, selbst nicht an einem Weih­nachts­sonn­tag. Wir waren froh, dass wir mit heiler Haut wegge­hen durf­ten.

Sehr geehr­ter Herr Pfar­rer, sehr geehr­ter Herr Bürger­meis­ter,
dieses Miss­ver­ständ­nis, das uns wirk­lich Angst gemacht hat, hat zwei Ursa­chen.
Erstens hat sich, seit ich 1986 das Land verlas­sen habe, offen­bar in Deutsch­land, oder jeden­falls in Berlin, das Fried­hofs­recht eingrei­fend geän­dert. Ich wusste nicht, und niemand hat es mir jemals erklärt, dass man als Nicht-Besit­zer von Gräbern nicht mehr über einen Fried­hof gehen darf, dass man über­haupt nur Gräber der eige­nen Fami­lie aus der Nähe anschauen darf.
Berlin ist eine Stadt mit vielen Besu­chern, die diese Stadt lieben. Bitte erwä­gen sie, unschul­dige Besu­cher, die nichts Böses im Schilde führen, vor sich selbst zu schüt­zen. Deut­li­che Schil­der “Fried­hof. Unbe­fug­ten ist das Betre­ten strengs­tens verbo­ten.” wären hilf­reich, um Miss­ver­ständ­nisse zu vermei­den. Aber in Anbe­tracht der Wut dieser jungen Männer und der Angst, die sie verbrei­ten, wären hohe Mauern oder zumin­dest Stachel­draht noch besser. Auch inner­halb eines Fried­ho­fes soll­ten die verschie­de­nen Terri­to­rien deut­lich gekenn­zeich­net und abge­teilt sein. Ich möchte nicht, wenn ich mit einem Berli­ner Freund dessen Eltern­grab besu­che (falls das über­haupt noch erlaubt ist), unver­se­hens auf verbo­te­nes Terri­to­rium gelan­gen, denn das heutige Erleb­nis war mehr als man ertra­gen kann.
Zwei­tens stan­den auf diesen Gräbern Kreuze. Wir hiel­ten sie für christ­li­che Gräber. Chris­ten denken dann: Alle Chris­ten sind Brüder, man fühlt sich welt­weit verbun­den und meint, diese Verbun­den­heit an solchen Gräbern beson­ders zu fühlen.
Die drei jungen Männer, die übri­gens nach Spra­che und Klei­dung durch­aus nicht rück­stän­dig oder primi­tiv wirk­ten, waren in diesem Sinne nicht als Chris­ten ansprech­bar. Sie schrieen nur von Besitz, “mein”, “unser” und davon, wer hier “nichts zu suchen” hätte. Verbun­den­heit, Liebe, das uns gewohnte christ­li­che Nach­den­ken über den Tod, der alle mitein­an­der und mit Gott verbin­det, kam mit keinem Wort vor. Das Gespräch ließ sich auch nicht darauf brin­gen.
Offen­bar stehen diese Kreuze für etwas ande­res: für Unter­schied und Ausgren­zung. Wenn man solche Kreuze der ande­ren Art auf einem christ­li­chen Fried­hof findet – selbst wenn der betref­fende Teil gekauft wurde und wenn sowieso in Deutsch­land ein neues Fried­hofs­ge­setz gilt – ist das verwir­rend und gefähr­lich. Etwa ebenso gefähr­lich wie wenn an einem Ufer mit tödli­chen Strö­mun­gen ein Schild “Bade­stelle” stünde.
Ja, Berlin ist multi­kul­tu­rell. Aber wenn Kreuze solch verschie­dene Dinge bedeu­ten können, das eine Verwechs­lung lebens­be­droh­lich wird, ist es die Aufgabe der Obrig­keit, Unglü­cke zu verhin­dern. Viel­leicht könnte man die alt-Berli­ner christ­li­chen Kreuze im tradi­tio­nel­len Sinne mit einem gelben Kenn­zei­chen verse­hen, damit der fried­li­che Spazier­gän­ger die ande­ren, unge­kenn­zeich­ne­ten, meiden kann wie die Pest.

Mit freund­li­chen Grüßen,
Dr. rer. nat. Hanno Wupper
Nijme­gen, Nieder­lande

P.S. Wir sind gerade dabei, für Nieder­län­di­sche Berlin­freunde inter­es­sante Infor­ma­tio­nen über Berlin zusam­men­zu­stel­len. Die Nieder­lande und Preu­ßen fühlen sich ja seit Zeiten des Großen Kurfürs­ten mitein­an­der verbun­den. In beiden Ländern ist tradi­tio­nell Tole­ranz einer der wich­tigs­ten Werte. Um Unglück und Gewalt zu verhin­dern, werden wir einen Hinweis aufneh­men, dass vom Besuch von Fried­hö­fen abge­ra­ten wird.

(Text leicht gekürzt)

Hanno Wupper

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