Bölschestraße zum See

Der Bahn­steig ist lang für den Sommer. Dann kommen hier­her aus der Metro­pole wohl viele Leute, die die Statis­ti­ken Erho­lungs­su­chende nennen, meis­tens wissen sie ihre Wege viel ziel­stre­bi­ger, als das mit seinem Objekt verei­nigte Verbum vorgibt. Jetzt pfeift ein kühler Wind über den Perron. Man muss eine Treppe hinab. Sie führt durch ein spitz­bo­gi­ges Schein-Gewölbe; es liegt unter acht Fens­ter­chen wie das Eingangs­tor einer Burg. Es sagt uns: In Fried­richs­ha­gen sind wir nicht irgendwo. Hier sind wir rich­tig.
Die Haupt­straße heißt nach Wilhelm Bölsche. Niemand weiß mehr wirk­lich etwas von ihm. Bei meinem Vater stan­den seine popu­lä­ren Bücher über alles und jedes noch herum. Wenn man sie heute läse, erführe man nicht, was ihre Verdienste waren. Er sah ein biss­chen wir Karl Marx aus. Bei Hertzis Ausschank kommt mir ein Mann entge­gen, der ihm ähnlich sieht.

Die Bölsche­straße ist zu Recht geschätzt. Sie ist keines­wegs nur ein Weg von der S‑Bahn zum Müggel­see. Sie ist eine schöne, inter­es­sante Einkaufs- und Spazier­straße; rechts und links von ihr hat der Ort schnell etwas Gärt­ne­ri­sches, die Stadt staut sich hier nicht auf; wir sind drau­ßen und doch daheim. Einkaufs­stra­ßen mit touris­ti­schen Ziel­punk­ten sind selten. Niemand geht über den Kudamm wegen des Halen­sees.
Durch die Bölsche­straße zum Müggel­see, da hat man auf einem Spazier­gang Stadt und Natur. Das Charak­te­ris­ti­kum der Straße sind die unter­schied­li­chen Haus­grö­ßen. Endzeit­lich aufge­tra­gen­des Pseu­do­groß­bür­ger­tum — nur wenig wirk­lich echtes — Wand an Wand mit denk­mal­ge­schütz­ten klei­nen Häus­chen, deren Fassa­den manch­mal nur aus Fens­ter und Verzie­rung bestehen: Die Häus­chen der Baum­woll- und Seiden­spin­ner, Immi­gran­ten­woh­nun­gen. Das Gast­haus “Zum Maul­beer­baum” hat eher einen histo­ri­schen als einen bota­ni­schen Namen. Maul­beer-Bäume ließ der König pflan­zen, als er vorge­schla­gen hatte, die Seiden­spin­ner hier anzu­sie­deln; Preu­ßen einge­hüllt in Fried­richs­ha­ge­ner Seide. Durch Einwan­de­rung gewinnt ein Land. Die Bölsche­straße hat also viel Histo­ri­sches. Aber unsere Zeit hat nichts Histo­ri­sches; wir haben genug an der Gegen­wart, damit wir nicht an die Zukunft denken müssen. Die Gegen­wart der Bölsche­straße ist nicht zu beschrei­ben ohne die Banken. Die reno­vier­ten Häuser, dieje­ni­gen, die uns sagen: “Es geht aufwärts, die Zeit des Verfalls ist zu Ende”, erken­nen wir schnell als Bank­fi­lia­len. Ich würdige zuerst die Villa der Commerz­bank in Nr. 74; weiter unten an promi­nen­tem Ort, an Markt und Kirche, am klas­si­schen Platz der Geschäfte, die Deut­sche Bank. Zwischen der Bank und der Kirche, dem Wochen­markt gegen­über, auf dem klei­nen Rasen­stück­chen, eine Säule mit gekrön­tem Adler, der da nun fest­sitzt und nicht fort­flie­gen kann. Die Säule gedenkt der Gemein­de­to­ten von 1864, 1866, 1870/71, davor tatsäch­lich im schwarz-rot-golde­nen Gebinde ein Kranz: “Unse­ren Kame­ra­den”; ist also ein ganzes Jahr­hun­dert an Fried­richs­ha­gen vorüber­ge­gan­gen oder hat es hier viel­leicht gar nicht statt­ge­fun­den, so dass die glück­li­chen Freunde der Totge­schos­se­nen, die auch nicht nein gesagt haben, sich immer noch fürs Über­le­ben entschul­di­gen müssen?

Nur Nummer 66 macht eine Ausnahme von dem Erfah­rungs­satz, dass die am schöns­ten reno­vier­ten Häuser Banken gehö­ren. Ein West­ber­li­ner Rechts­an­walt lässt ein betürm­tes Eckhaus aus dem letz­ten Drit­tel des 19. Jahr­hun­derts als Baudenk­mal erneu­ern. Das hätten sich die Refor­mer um die Jahr­hun­dert­wende (die Bölsches, Willes, Mühsams, Harts, Haupt­manns und Leis­ti­kows), erst recht die späte­ren nicht träu­men lassen, dass die Erzeug­nisse des Imitat-Stils des Spät­ka­pi­ta­lis­mus einst in den Rang von Bauschön­hei­ten erho­ben werden würden. Nost­al­gie statt Geschichte. Berlin hat über­haupt — aller Jahr­hun­derte unge­ach­tet, die die Jubi­lä­ums­ma­na­ger zusam­men­rech­nen — nur eine kurze Geschichte.
Das Berli­ner Bürger­bräu gehört als Betrieb, Betriebs­typ und als Erin­ne­rung zu dieser Groß­stadt­ge­schichte; die italie­ni­sie­rende Villa des Chefs legt sich in der Josef-Nawro­cki-Straße, dem Ende Bölsche­straße gegen­über, direkt an das Brau­haus; da tun die Stadt­kunst­füh­rer genau das Falsche, die die Villa retu­schie­rend von der Braue­rei zu tren­nen versu­chen, als reiche ein weiter See aus, um aus der Mark Italien zu machen und aus einem Bier­brauer, der die Groß­stadt­aus­flüg­ler bedient, einen Förde­rer der schö­nen Künste. Aber viel­leicht war alles auch ganz anders. In Berlin kann vieles anders gewe­sen sein, als es aussieht, es ist — warum also hier nicht? — eine Stadt der Einbil­dun­gen und der Imita­tio­nen, irgendwo kann hier auch der Über­set­zer Dantes gewohnt haben. Es ist Montag. Am Sonn­tag war auf dem zuge­fro­re­nen See hier “ein Betrieb , da is die Alster nüscht dage­jen; aber im Fern­se­hen ham se eben die Alster gebracht”; heute nur zwei Figu­ren, die über das Eis einen Weg finden, ein Paar und ein Mann allein. Die Schwäne, denen das Eis, das sie zu watscheln zwingt, alle Eleganz nimmt, denken, sie bekom­men Futter. Seit 1926 gibt es hier den Spree­tun­nel, durch den Bert Brecht im Film Menschen herauf­stei­gen ließ mit wehen­den Fahnen, als sei die Zukunft ange­kom­men.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Clemens­franz, CC BY-SA 3.0

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