Bis Mitte des 19. Jahrhunderts gab es zwar vor den Toren Berlins auch schon gewisse Regulierungsmöglichkeiten, was den Neubau und die Struktur der Straßen angeht, aber ein übergreifendes Städtebaukonzept existierte nicht. So konnten August Borsig, W. Wedding oder Louis Schwartzkopff ihre Werke an der Chaussee vor dem Oranienburger Tor bauen. In Richtung Osten entstanden hier und da die schon beschriebenen Familienhäuser, zwischen dem Hamburger und dem Rosenthaler Tor stand die Kolonie Vogtland. Überall dazwischen lagen noch einzelne Felder oder Sandflächen, auf denen sich zeitweise Obdachlose ihre Hütten bauten oder mal ein Zirkus sein Zelt errichtete.

Doch mit der zunehmenden Industrialisierung mussten sich diese Zustände dringend ändern. Denn einerseits kamen Tausende nach Berlin, um hier nach Arbeit zu suchen, doch diese Menschen konnten nicht alle untergebracht werden. Andererseits gab es auch für die Industrie kaum eine funktionierende Infrastruktur. Sandwege, Stadtmauer und fehlende Bahnanschlüsse standen der Expansion im Wege, ebenso wie die ungeklärten Verhältnisse, wo eigentlich Berlin aufhört und der Barnim anfängt. Und das war kein theoretisches Problem, sondern ein ganz handfestes, denn davon hing es ab, wo die Betriebe ihre Steuern zahlen mussten und dafür auch Gegenleistungen verlangen konnten.

Um vor den Toren der Stadt die wilde Bebauung zu stoppen, musste also etwas geschehen; so gab der Magistrat die Entwicklung eines Bebauungsplanes in Auftrag.

Dieser Plan hatte aber nicht nur die zukünftige Straßenführung zu regeln, sondern einiges mehr: zum Beispiel die Häuserformen, die Aufteilung der Bevölkerungsstruktur, das Verhältnis zwischen Wohnen, Gewerbe, Erholung und Verkehr. Und selbstverständlich wollten alle, die von einer Änderung betroffen waren, mitreden. Das Militär, das um seine großen, stadtnahen Exerzierplätze bangte, die Fuhrbetriebe, besonders natürlich die Grundbesitzer und schließlich auch die Bürger.

Die festgeschriebenen Bauordnungen wurden damals noch als Polizeiverordnungen erlassen. Sie beschränkten sich im Wesentlichen auf die Normen, die zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung unbedingt notwendig erschienen. Die Baupolizeiordnung vom 2. April 1853, nach der die Bebauung zu erfolgen hatte, sah keinerlei Beschränkungen für die Bebauung der Grundstücksfläche vor. Nur zwei Daten waren vorgegeben: 1. Die Hinterhöfe mussten mindestens 5,34 x 5,34 Meter (also 28,5 qm) messen, das war der für die Feuerwehrspritzen erforderliche Wendekreis; 2. die Gebäudehöhe durfte die Breite der Straße nicht überschreiten. Damit sollte verhindert werden, dass bei einer Brandkatastrophe einstürzende Fassaden das gegenüberliegende Haus zerstörten.

Klar war, dass das bisherige Stückwerk aufgegeben werden musste, weil abzusehen war, dass die Stadt in den folgenden Jahren auf das Doppelte der bisherigen Bevölkerungszahl ansteigen würde. Gleichzeitig würden auch weitere neue Industriebetriebe entstehen, so dass auch ein umfassendes Verkehrskonzept nötig wurde.

Dieses große Werk umzusetzen, wurde der Baurat James Hobrecht beauftragt. Er stand nun vor der Aufgabe, die Gebiete außerhalb der noch existierenden Mauern einzubinden in eine noch zu schaffende, neue Stadtstruktur, die innerhalb der bisherigen Weichgrenze entstehen sollte. Um einmal das Größenverhältnis zu verdeutlichen: Übertragen auf die heutigen Stadtbezirke bestand Berlin damals aus dem alten Mitte, dem nördlichen Kreuzberg und dem westlichen Friedrichshain. Doch das künftige Stadtgebiet sollte nun neben Mitte ganz Kreuzberg, ganz Friedrichshain, den Prenzlauer Berg, Wedding und Moabit sowie Teile von Reinickendorf, Weißensee, Hohenschönhausen, Lichtenberg und Neukölln umfassen. Insgesamt würde das zukünftige Stadtgebiet um etwa 170% vergrößert werden.

Und das wurde alles sozusagen am Reißbrett geplant – eine riesige Aufgabe, gegen die sich der Neuaufbau des Geländes am Potsdamer Platz in unserer Zeit doch sehr bescheiden ausnimmt.

Der von Hobrecht vorgelegte Bebauungsplan rief natürlich erstmal massenhaft Kritiker auf den Plan. Zwar orientierte sich Hobrecht schon an den vorhandenen, vor allem den größeren Straßen und Wegen, besonders an denen, die von den Stadttoren abgingen. Doch viele der existierenden Wege sollten noch der neuen Stadtaufteilung geopfert werden.

Die Grundidee Hobrechts war, nicht nur eine große, zentrale Stadt zu bauen, bei der alles ausschließlich auf das Zentrum ausgerichtet ist, sondern einzelne Stadtteile zu schaffen, die wir heute als »Kieze« beschreiben. Es waren einerseits breite Straßen geplant, die sternförmig zum Inneren der Stadt führten, also etwa zum Alexanderplatz. Diese Magistralen wollte er dann durch ringförmig angelegte Straßen miteinander verbinden. Hobrecht sah vor, dass diese Straßen den Hauptverkehr aufnehmen sollten, während sich innerhalb der so entstandenen Gebiete die Wohnviertel befinden. Kleine Straßen und Plätze sollten hier das Leben bestimmen, und in jedem dieser Viertel sollte ein »Karree«, also über ein oder zwei Blocks verteilt, ein kleiner Park angelegt werden, in dem die Bevölkerung ihre Erholung finden könnte. Zusätzlich zu Hobrechts Planung wurde von der Stadt beschlossen, in jedem Bezirk einen großen Volkspark anzulegen. Das waren dann der Humboldthain, der Friedrichshain sowie der Kreuzberg.

James Hobrecht sah sein Aufgabe vor allem darin, eine für die Bevölkerung lebenswerte Stadt aufzubauen. Das zeigt sich auch daran, dass er große Industriekomplexe entweder außerhalb der Stadt ansiedeln wollte, oder doch zumindest innerhalb der Häuserblöcke. Er entwickelte die Idee des Arbeitens und Wohnens an einem Ort, woraus die »Berliner Mischung« entstanden ist: Das Vorderhaus, mit Handel oder Gastronomie im Erdgeschoss, darüber die Hausbesitzer oder Verwalter, darüber Beamte oder Angestellte. In den Hinterhäusern waren die Arbeiter und Rentner untergebracht, während weiter im Blockinneren Betriebe angesiedelt wurden. Die berühmten Fabrikgebäude, die man aus Platzmangel nicht in die Breite, sondern in die Höhe ziehen musste, sind ein Merkmal dieser damals neu entstandenen Stadtstruktur.

Nebenbei verfiel Hobrecht der Illusion, die unvermeidlichen Klassengegensätze aufzuheben oder zumindest Verständnis füreinander zu wecken: »In der Mietskaserne gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen in die Freischule über denselben Hausflur wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns auf dem Wege nach dem Gymnasium. Schusters Wilhelm aus der Mansarde und die alte bettlägerige Frau Schulz im Hinterhaus, deren Tochter durch Nähen oder Putzarbeiten den notdürftigen Unterhalt besorgt, werden in dem ersten Stock bekannte Persönlichkeiten. Hier ist ein Teller Suppe zur Stärkung bei Krankheit, da ein Kleidungsstück, dort die wirksame Hilfe zur Erlangung freien Unterrichts oder dergleichen und alles das, was sich als Resultat der gemütlichen Beziehungen zwischen den gleichgearteten und wenn auch noch so verschiedenen situierten Bewohnern herausstellt, eine Hilfe, welche ihren veredelnden Einfluß auf den Geber ausübt. Und zwischen diesen extremen Gesellschaftsklassen bewegen sich die Ärmeren aus dem II. oder IV. Stock, Gesellschaftsklassen von höchster Bedeutung für unser Kulturleben, der Beamte, der Künstler, der Gelehrte, der Lehrer usw., und wirken fördernd, anregend und somit für die Gesellschaft nützlich. Und wäre es fast nur ihr Dasein und stummes Beispiel auf diejenigen, die neben ihnen und mit ihnen untermischt wohnen.«
Man kann nur staunen über so viel Naivität.

Im Großen und Ganzen wurde der Plan von Hobrecht umgesetzt. Selbstverständlich geschah dies nicht innerhalb von wenigen Jahren, er wurde auch immer wieder von Anderen überarbeitet, gekürzt oder erweitert. Auch im Gebiet der Brunnenstraße gab es einige Änderungen. So hatte Hobrecht vorgesehen, quer zur Straße im Verlauf der heutigen Gustav-Meyer-Allee bzw. Rügener Straße eine breite Allee anzulegen, die an ihren Enden in große, runde Plätze mündete, von denen jeweils sternförmig acht Straßen abgehen sollten. Zuerst wurde der westliche Platz wegen des Humboldthains gestrichen. Der östlich gelegene Platz sollte in der heutigen Rügener Straße etwa zwischen Putbusser und Swinemünder Straße liegen, aber er wurde der rechteckigen Blockbebauung geopfert. Trotzdem hat Hobrecht auch diesen Teil der Brunnenstraße maßgeblich geprägt, zum Beispiel geht die Anlage des Vinetaplatzes auf seinen Plan zurück.

Eine der Kritiken an Hobrecht war, dass er nicht nur für die Gegenwart geplant hatte, sondern zu sehr vorausschauend für die Zukunft. Wenn man sich seine Planung heute ansieht, dann kommt man zu dem Schluss, dass dieser Mann nicht dumm gewesen ist. Der heute existierende Verkehr, besonders der motorisierte, war ja vor 140 Jahren in dieser Form noch gar nicht abzusehen. Dreißig Jahre bevor das erste Auto erfunden wurde, plante Hobrecht schon eine Straßenstruktur, die wie auf den privaten Massenverkehr zugeschnitten war. Damals jedoch waren die breiten Straßen für Viele ein Ärgernis, weil sie eine neue Struktur darstellten, die von den bis dahin existierenden engen Wohn- und Verkehrsverhältnissen abwich. Das Gleiche gilt auch für die als nutzlos angesehenen Plätze.

Aus der Beschreibung des Bebauungsplans: »Die öffentlichen Plätze sind möglichst gleichmäßig zu vertheilen; sie liegen entweder wie die Bauviertel zwischen den Straßen, oder da, wo Hauptstraßen zusammentreffen, und sind am nutzbarsten, wenn sie zur Seite einer Hauptstraße liegen.Was ihre Form betrifft, so erscheinen die rechteckigen als die nutzbarsten, und wenn sie im Plane auch einförmig und als nüchterne Wiederholungen erscheinen, so hängt ja der Wechsel und die künftige Gestaltung lediglich von der Art ihrer Ausbildung und Benutzung ab, und niemand wird z.B. in dem Lustgarten und dem Gendarmenmarkt eine Wiederholung derselben Idee finden können.

Die Plätze müssen öffentlichen Anlagen dienen, für öffentliche Gebäude, namentlich für Kirchen, welche dem Verkehr entzogen werden müssen, und darüber hinaus für Spielplätze, Promenaden und Gartenanlagen. Tatsache ist, daß es in Berlin an öffentlichen Plätzen fehlt, daß nur wenige ausreichend groß, daß aber die verschiedenen Größen nutzbar sind.«
Im Bereich der Brunnenstraße sind allerdings nur zwei nennenswerte Plätze entstanden, der Arkonaplatz in Mitte sowie der Vinetaplatz im Wedding.

Wenn man von »dem« Bebauungsplan ausgeht, den Hobrecht aufgestellt hat, dann ist das allerdings nicht ganz richtig. Zwar hat Hobrecht das Grundmuster entworfen und sicher auch den größten Teil des Plans entwickelt, aber natürlich waren auch ganz Andere beteiligt, die ihre Vorstellungen durchsetzen konnten. Dazu kam, dass übergeordnete Stellen Vorgaben machten, die zwar dem Plan widersprachen, aber trotzdem bindend waren. Vor allem ist da die Anlage der Ringbahn zu nennen, die in Hobrechts Plan überhaupt nicht berücksichtigt worden war und die ursprüngliche Planung in diesem Bereich natürlich stark veränderte. Dazu kamen die Ansprüche z.B. der Kirchen, repräsentativer vertreten zu sein, als es vorgesehen war.

Hobrecht selbst war auch erst Ende der 50er-Jahre maßgeblich beteiligt, während erste Gedanken und Pläne schon Jahre vorher veröffentlicht und diskutiert wurden. Im Mai 1859 wurde bekanntgegeben, dass Hobrecht mit den Vermessungsar beiten begonnen habe. Und obwohl er von der Vermessung bis zur Ausarbeitung des Bebauungsplans nicht mehr als drei Jahre gebraucht hat, hat er sich damit in Berlin doch ein Denkmal gesetzt, das mehrere Quadratkilometer groß ist. Hobrecht war nur wenige Jahre in Berlin, hat aber die Struktur dieser Stadt beeinflusst, wie kaum jemand Anderes vor oder nach ihm. Auch sein jüngerer Bruder, der Novellendichter war, oder der Ältere, Arthur, der später Oberbürgermeister von Berlin und danach Bismarcks Finanzminister wurde, reichten nicht an die Bedeutung heran, die James Hobrecht für diese Stadt hatte. Zwar war seine Arbeit in Berlin noch nicht beendet, da er sich zum Beispiel sehr in den Aufbau der Kanalisation engagierte, doch diese Stadt wurde nicht sein Zuhause. Er ging wieder in den Osten und machte sich in Stettin einen Namen als Baumeister größerer Gebäude wie des Rathauses, des Krankenhauses und eines Gymnasiums.

Bei allem Lob für Hobrechts Werk muss man aber auch Kritik anbringen. Hobrechts Ziel war es, möglichst viele Menschen effektiv und wenigstens ein bisschen menschenwürdig unterzubringen, nach Möglichkeit auch in der Nähe ihrer Arbeitsstelle. Doch dieses Vorhaben hat nur zum Teil geklappt; einige Parks täuschen eben nicht darüber hinweg, dass auch die unmittelbaren Lebensräume – also die eigene Wohnung – eine gewisse Lebensqualität bieten müssen. Sicher waren die Ansprüche im 19. Jahrhundert niedriger als heute und man war schon froh, wenn es fließendes Wasser auf den Etagen gab. Trotzdem ist Hobrechts Planung größtenteils für den Bau der sogenannten Mietskasernen verantwortlich. Und diese konnten spätestens ab Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr den Ansprüchen eines lebenswerten Wohnens gerecht werden. So wurden mehr und mehr Menschen in die Häuser gestopft, und als es gegen Ende des Ersten Weltkrieges und dann wieder in den zwanziger Jahren den Arbeiterfamilien immer schlechter ging, mussten manchmal zwei Familien in einer Wohnung leben. Der berühmt-berüchtigte »Meyers Hof« in der Ackerstraße 132/133 beherbergte Anfang der Dreißiger sogar bis zu 2.000 Personen! Dieser Komplex mit den fünf Hinterhäusern wurde bald zum Synonym für die Berliner Mietskaserne schlechthin. Doch auch wenn dieses Gebäude ein besonders schlimmes Beispiel war, so kam diese Form des Wohnens in Berlin immer mehr in die Kritik. Bald durfte dann auch keine Kellerwohnung mehr vermietet werden, manches Mal kam auch die Bauaufsicht, um einzelne Räume oder Etagen zu sperren. Doch durch die Wohnungsnot waren viele Menschen gezwungen, sich unter solchen Bedingungen niederzulassen. Hier eine Schilderung aus den 20er-Jahren, wie es in einer der heruntergekommenen Berliner Mietskasernen zuging. Allerdings ist diese Beschreibung von jemandem, der nur ausnahmsweise mal ein solches Haus betreten hat; sie ist in ihrer Intensität sicher etwas übertrieben, aber doch nicht völlig aus der Luft gegriffen:

»Betritt man ein solches Haus, so wird man alsbald von einem verpesteten Geruch befallen, Schmutz herrscht überall und auf den Treppen balgen sich halbnackte Kinder. Zank und Streit besteht zwischen den Flurnachbarn; bei dem geringsten Anlaß werden auf Korridoren und Treppen lärmende Wortgefechte in den unflätigsten Ausdrücken und blutige Raufereien ausgefochten, bei denen Stöcke, Besenstiele und Messer eine große Rolle spielen; die Weiber begießen sich mit ekelhaften Flüssigkeiten, bewerfen sich mit Kot und raufen einander die Haare aus, die Männer werfen sich gegenseitig die Treppe hinab und dazwischen schreien und wimmern Kinder in jeglichem Alter. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit bilden sich im Hause zwei Parteien, die einander befehden und die sich nur dann einigen, wenn es ja einmal dem Hauseigentümer oder dessen Vertreter einfallen sollte, dazwischenzutreten, um Ruhe zu stiften. Dann stürzen sie gemeinschaftlich auf diesen los und schlagen nicht selten den ihnen allen Verhaßten windelweich.

Dieselbe dicke, übelriechende Atmosphäre, denselben Schmutz wie auf Hausflur und Treppen finden wir im Innern der Wohnungen wieder. Alles liegt unordentlich durcheinander. Die wenigen Betten und Möbel sind alt und gebrechlich. Besteht die Wohnung aus einem oder mehreren Zimmern und einer Küche, so sind meistens die ersteren an junge Leute die teils arbeiten, teils nicht arbeiten, oder an prostituierte Dirnen oft der gefährlichsten Sorte abvermietet, während die Familie ihre Unterkunft in der Küche sucht. Besteht aber die Wohnung nur aus einem einzigen Raum, der dann selbstverständlich zugleich als Wohnung, Schlafzimmer und Küche dienen muß, so drängt sich hier alles zusammen. In dem gewöhnlich nur einmal in seiner Art vertretenen Bette liegen Mann, Weib und Kinder ebenso wie sie gerade Platz finden, oft auch die Kinder am Fußboden auf Stroh und neben ihnen der miteinwohnende Schlafbursche.«

Der beiden folgenden Texte sind Erinnerungen der Rentner Harry Kompisch sowie Inge und Hilla Mann:
»1924, als ich drei Jahre alt war, bekam mein Vater die Wohnung. Ich habe dort bis 1941 gelebt, bis ich eingezogen wurde, also 17 Jahre lang. Ich habe meine Kindheit dort verbracht, und ich muss sagen, es war eine wunderschöne Jugend, trotzdem es ‚Milljöh‘ war. Heute würde man das keinem Menschen mehr zumuten, aber für uns Kinder war das ein Paradies zum Spielen.

Die Sacknäherei im letzten Quergebäude war nur ein Stockwerk hoch, ein Flachbau, der für uns Kinder herrlich zum Spielen war. Wir sind über die Dächer gerannt, übers Nebenhaus bis hin zum letzten Hof, da ging eine Leiter runter am Schornstein, dann waren wir auf dem Flachbau.«

»Der Flur hatte keine direktes Licht, die Türen waren meist verschlossen und hatten keine Fenster. Ab 1936 gab es elektrisches Licht, bis dahin wurde mit Gas, Petroleum oder Kerzen beleuchtet. Seitdem hing eine trübe elektrische Glühbirne im Flur. Es war so’n richtiger Graulkorridor.

Familienfeste wurden von allen, die auf dem Flur wohnten, gemeinsam gefeiert, dann waren die Türen offen. Wir wussten doch, wie unsere Buden aussahen, wir brauchten uns doch nicht voreinander zu schämen. Keiner war besser. Das Klo lag neben der Küche, der hintere Teil war abgetrennt, das war die Speisekammer von Frau Spaldings. Darüber war das Fenster, das man mit einer Stange öffnen konnte.

Wir hatten ja nur in der Küche gelebt. Da gab’s zu essen, zu trinken, da wurde drin gewohnt. Das Schlafzimmer, das war tabu, da wurde nur drin geschlafen. Außer meine Mutti, die hat in der Küche geschlafen. Geheizt wurde nur in der Küche. Küche kann man das eigentlich nicht nennen, da war so ein kleines Ding mit einem Wasserhahn. Links stand der Kochherd, so ein eisernes Ding, der wurde mit Kohle beheizt. Neben dem großen eisernen Herd stand ein Gasherd, der mit einem Schlauch an einen Automaten angeschlossen war. In den Gasautomaten mußte man immer einen Groschen reinstecken.«

[Aus: Das Berliner Mietshaus 1865-1945, I. F. Geist und K. Küvers]

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