Für viele Berliner war „der Wedding“ über die Jahrhunderte überhaupt kein Begriff. Denn das Gebiet weit nördlich der Stadtmauer, das 1251 zum ersten Mal unter diesem Namen auftauchte, bestand aus Brachland, Acker und Wald, der dann komplett abgeholzt wurde. Lediglich als Standpunkt des Galgens kam der Wedding Mitte des 18. Jahrhunderts zu zweifelhaftem Ruf. Die letzte öffentliche Verbrennung im Wedding fand 1813 statt und betraf Herrn Johann Horst und seine Geliebte Christiane Delitz, die ihrerseits zuvor das Dorf Schönerlinde eingeäschert hatten. Der Mann war auch als Anführer der „Horst-Bande“ bekannt.
„Der Wedding“ – das bedeutete im Jahre 1828: 226 Wohnhäuser mit 2.217 Menschen, dazu 17 Fabriken und Mühlen, fast ausschließlich an der „Chaussee“, der heutigen Müllerstraße. Die Weddinger galten damals als so arm, dass der Kreis Niederbarnim seine Eingemeindung ablehnte, da „die Kosten für eine Gemeindeverwaltung bei der notorischen Bedürftigkeit der Bewohner nicht aufzubringen wären.“
Bereits seit 1818 war auch eine Eingemeindung in Berlin im Gespräch, doch diese stieß auf heftige Widerstände. 1825 stellte ein Ausschuss der Stadtverordneten-Versammlung fest, dass bei der Eingemeindung nur erhöhte Ausgaben für Berlin entstehen würden, da die Kriegssteuer für diese Gebiete aufrecht erhalten bleiben und Berlin zusätzlich Entschädigungen an die umliegenden Kreise zahlen sollte. 1828 kam als weiteres Argument hinzu, dass man nicht noch die Kosten für die Armenpflege übernehmen und die Feuerpolizei für die Gebiete außerhalb Berlins einsetzen wollte. Es wurde gesagt, dass gerade die Weddinger Gebiete nur ungenügende Steuereinnahmen bringen würden. Doch die Bedenken gegen die Eingemeindung des Wedding wurden bald von höchster Stelle erschüttert: Das Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege vom 31. Dezember 1842 legte den Berlinern gerade diese Pflichten auf, die sie durch die Nicht-Eingemeindung des Weddings verhindern wollten. Der unscheinbare Text des Gesetzes hatte eine große Wirkung. „Gutsherrschaften, deren Güter nicht im Gemeindeverbande sich befinden, sind zur Fürsorge für die im Gutsbezirk befindlichen Armen in gleicher Weise wie die Gemeinden verpflichtet.“
Berlin war – obwohl das Gebiet des Weddings nicht zur Stadt gehörte – privatrechtlich seit 1817 Eigentümer der Ländereien des Weddings und somit als Gutsherr zur Versorgung der Armen verpflichtet, ob es nun eine Eingemeindung geben würde oder nicht.
Ein Bericht aus dem Jahr 1846 zählte die möglichen Klienten der Armen-Fürsorge auf. Demnach gab es in Berlin damals 10.000 Prostituierte, 12.000 Straftäter, 12.000 nicht gemeldete Personen, 18.000 Dienstmädchen, von denen ein nicht geringer Teil heimlich der Prostitution nachging, 20.000 arbeitslose Weber, die durch die Einführung der mechanischen Webstühle ihre Jobs verloren hatten, 6.000 Almosenempfänger, 6.000 arme Kranke, 3.000-4.000 Bettler, 2.000 Insassen von Strafanstalten sowie 2.000 Pflege- und 1.500 Waisenkinder. Insgesamt gab es also etwa 95.000 potentielle Fürsorge-Empfänger. Zwar kann man diese Schlussfolgerung als übertrieben ansehen, aber die Zahlen zeigen doch, dass die Armut und ihre Folgen ein bedeutendes Problem war.
Mit der zunehmenden Industrialisierung stieg auch die Zahl derjenigen, die nach Berlin siedelten, hier aber noch ein Hungerleben führten. Borsig, Woehlert und Schwartzkopff hatten ihre Fabriken in die Gebiete außerhalb der Stadt gelegt. Die Arbeiter, die dort tätig waren und sich bald auch nahe der Fabriken ansiedelten, brachten Berlin aber keine Steuern ein. Grundbesitzer, von denen Steuern zu erwarten waren, gab es im Wedding ebenfalls nicht viele. 1835 zählte man gerade mal 411. Die Regierung regte nun am 9. März 1843 die Eingemeindung des Weddings an, doch die Berliner lehnten ab. Allenfalls einen Teil von Moabit wollte man haben, aber auch hier sträubte man sich, die Kosten für die notwendige Straßenpflasterung und den Brückenbau zu übernehmen. Aber vor allem die „Armen- und Verbrecher-Kolonie“ des Wedding – wie sie von Stadtverordneten bezeichnet wurde – wollte man nicht.
Der Aufstieg des Wedding begann dann kurz nach Mitte des 19. Jahrhunderts. Bereits 1851 war Ernst Schering in den Norden gezogen. Er gründete zunächst in der Chausseestraße die „Grüne Apotheke“ und am 23. Oktober 1861 die „Chemische Fabrik auf Aktien“ in der Müllerstraße 170/171. Die Firma Schering ist heute einer der größten Chemiekonzerne im Osten Deutschlands.
Die Eingemeindung in die Stadt Berlin zum 1. Januar 1861 bewirkte dann ein geradezu explosionsartiges Anschwellen des neuen Stadtbezirks Wedding. Zahlreiche Großunternehmen wie AEG, Hildebrand, Osram oder Rotaprint siedelten sich in der Folge im Wedding an. Dadurch entwickelte sich der Stadtteil zu einem Industriebezirk, durch den aber nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Wohnungsnot und soziales Elend einzogen.

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